flucht und trauma

Der kleine Sascha war sieben oder acht, als der große Hunger über der Ukraine einbrach – Holodomor. Seine Eltern nahmen ihre vier Kinder, die spärlichen Habseligkeiten und verließen ihre kleine Hütte in der Region Poltava. Sie flohen vom Holodomor, an den Wolga, nahe Saratow fanden sie Obdach. Sascha wusste danach nicht mehr, ob er noch mehr Geschwister gehabt hatte, außer seiner zwei Brüder und seiner Schwester, die überlebt hatten. Wie diese Flucht gewesen war, was vor dem Hunger geschah – Sascha (später Alexander Vasiljevitsch, mein Großvater) konnte oder wollte sich nicht erinnern.

Anja bewahrte ein Bild ihrer Mutter im Nähkasten auf, ihr ganzes Leben lang – die Mutter war darauf sehr schön, hatte ein langes Kleid mit pompös ausgestelltem Rock. Sie kam aus einer wohlhabenden Familie, die Kühe und Pferde züchtete und ein großes Anwesen hatte. Vor der Oktoberrevolution. Davon hat Anja nur gehört, aber es selbst nie gesehen. Nur eben die Mutter, schön in einem umwerfenden Kleid. Gesehen hat sie ihre Mutter als Greisin, die geschuftet hat, im Kolhos und zu Hause, um sich und die Kinder zu ernähren. Der Vater saß im Gefängnis, weil er ein Gebetshaus organisiert hatte (Die Kirche war zum Silolager umfunktioniert worden). Er starb früh, Anja kannte ihn fast nur aus Erzählungen. So wohnten sie, Mutter und fünf Kinder, das sechste Mädchen, bildhübsch, hat das erste Jahr nicht überlebt. Schura, die Älteste, hat auch eine Arbeit im Kolhos bekommen, so blieb Anja mit ihr, half ihr im Haus, während Schura Vieh hütete. Als die Kühe sich an Farnen vergifteten, drohte Schura Gefängnis. So nahm sie Anja mit und floh mit einem Güterzug, im Viehwaggon Richtung Süden. Gelandet sind sie in Naltschik, einer Stadt im Kaukasus. Sie wohnten dort mehrere Jahre, bis der zweite Weltkrieg Naltschik erreichte. Dann flohen sie zurück, ins Saratow-Gebiet, zur Mutter und zu den Geschwistern. Anja – Anna Dmitriejwna – wurde später meine Großmutter.

Meine Großeltern mütterlicherseits kannten sich mit dem Flüchten bestens aus. Sie waren Juden, hatten bereits beinahe überall gewohnt. In der Rzec Pospolita blieben die Vorfahren sogar länger als eine Generation lang, aber dann war das Stättel Bobrujsk ans russische Imperium abgegeben worden. Aus dem Imperium wurde die Sowjetunion, Bobrujsk wurde somit zum Städchen in der sowjetischen Republik Weißrussland. Im zweiten Weltkrieg flohen sie wieder – nur die, die es noch geschafft hatten. Ural, Kasachstan, Wolga, lange Rede, kurzer Sinn – meine Großeltern mütterlicherseits landeten irgendwann ebenso im Saratow-Gebiet.

Meine Mutter hat mindestens ein Mal die Flucht ergriffen. Sie floh von der kleinen Stättel- in die weite Welt hinaus – dachte sie. Als jüdisches Mädchen sollte sie einen jüdischen Mann heiraten, aber wahrscheinlich war ihr das zu vorhersehbar und langweilig. Meinen Vater lernte sie kennen, als die beiden noch in die Schule gingen. Als sie heirateten, war sie Pädagogik-Studentin, er hatte gerade ein Militärinstitut absolviert und so konnte sie mit ihm von zu Hause weg. Zwar waren die viele kleinen Garnisonen, die wir im Laufe des Diensts meines Vaters bewohnten, auch nicht größer, als das Städtchen Engels an der Wolga, aber sie waren doch immer woanders, immer und immer neue Menschen. Und als wir Fernost, Sibirien, Karelien und die DDR hinter uns gebracht hatten und uns in der Ukraine niederließen, erwachte in ihr der Wunsch nach Hause zu kommen, nach Engels. Was ihr allerdings verwehrt blieb: die Perestrojka kam, die sowjetischen Republiken trennten sich von Russland ab, und wir blieben in der Ukraine. Zum Glück.

All die verflochtenen Fluchten verursachten Traumata. Überlebenskampf, Überlebenswillen um jeden, fast um jeden Preis. Wie hoch war der Preis? Generation für Generation trug und ertrug Unmögliches. Als Kinder aus Friedenszeiten, hatten wir wenig davon mitbekommen, man erzählte uns nichts darüber. Wir konnten nicht wissen, dass vergrabene Ängste und versteckter Schmerz unserer Vorfahren unser Leben mitbestimmen würden. Wir erkannten es bloß nicht, bevor wir uns die richtigen Fragen stellten. Aber die mussten noch reifen.

Zum ersten Mal bin ich mit vier von zuhause ausgebüchst. Lieben hat mir niemand beigebracht. Zugehörigkeit empfand ich nicht. Warum war meine Gefühlswelt von Angst ausgefüllt, vermengt mit dem Wunsch, der Mutter alles recht zu machen? Keine Haushunde, keine Katzen erlaubt, sie wären bloß Überlebenskonkurrenz. Einmal bin ich bei kinderlosen Nachbarn eingekehrt, saß an ihrem Balkon und aß Pralinen, während meine Mutter unten herumlief und verzweifelt nach mir schrie.

Ein zweites Mal floh ich aus dem Kindergarten – keiner außer mir konnte bereits sprechen und die Erzieherin hatte offensichtlich nicht vor, meine tausend Fragen zu beantworten. Ich fühlte mich verlassen – und floh.

Die dritte Flucht war nicht mehr witzig. Meinen ersten Mann habe ich nach einer sehr kurzen Kennenlernzeit geheiratet. Einige Tage nach der Hochzeit erfuhr ich, dass er ein Alkoholiker war. Im Rausch wurde er aggressiv, drei Mal verprügelt zu werden hat mir gereicht, um die Scheidung einzureichen. Die Scheidung lehnte er ab und drohte mir, mich zu zerstückeln, in dutzenden Löchern zu begraben, so fände mich niemand. Lange wog ich Angst und die Scham, als geschiedene Frau in dieser Gesellschaft zu leben, gegeneinander ab. Die Angst überwog und ich bat meinen Vater, mich heimlich abzuholen. Jahrelang träumte ich später, wie ich mich an dem Mann räche. Immer wieder bereue ich, dass ich mich damals nicht gewehrt habe.

Viele Fluchten habe ich seitdem ergriffen. Aus Feigheit, aus Ausweglosigkeit, vor Rassismus und Antisemitismus, vor Misshandlung, vor Armut.

Als meine Unizeit zu Ende ging, war auch die Sowjetunion am Ende. Die vorher wie eine Emulsion gemischte Gesellschaft zerlegte sich sehr schnell in zwei Schichten: die, die sofort begriffen wo und wie sie ans Geld kommen könnten und die, die gewohnt waren, konventionell zur Arbeit zu gehen. Ich gehörte zur zweiten und hätte theoretisch als Chemie-Lehrerin arbeiten können, aber die Löhne aus staatlichen Betrieben deckten nicht einmal die Hälfte der kleinsten Miete. Ein kleines Apartment teilte ich mit einer Freundin, manchmal hatten wir nur Brot daheim. Ich half mir über die Runden, indem ich jeden Job annahm, den ich kriegen konnte. Ich putze, arbeitete als Sekretärin in einer Möbelfirma, verkaufte Autos in einem Autohaus, tippte notarielle Verträge ein, hütete einen Haus, führte einen Husky Gassi, kochte auf Bestellung, übersetzte Kataloge zahnärztlicher Produkte, gab Deutsch- und English-Stunden. Ich verkaufte am Wochenmarkt von Kattowitz emaillierte Töpfe und am Bahnhof von Tula Fleischwurst. Alles half nichts: Ohne Eltern mit Seilschaften, ohne einen mehr oder minder reichen Mann oder besser gesagt – Freier, war das Leben in postsowjetischen Republiken der 90-er ein Kampf ums Überleben.

Da war doch was. Nach einer Studentenfete stieg ich in ein fremdes Auto, denn es war zu kalt, um lange auf einen Bus zu warten. Angeheitert witzelte ich mit zwei Jungs, die vorne saßen. Sie steckten mich in eine gewisse Schublade und plötzlich musste ich zusehen, bereits eingefroren von Angst, wie ich an der Straße, in der ich wohnte, vorbeifuhr, hinter die Stadt, in ein Waldhotel. Wehren einschließlich Lebensrisiko oder alles über mich ergehen lassen und am Morgen lebendig aus dem Raum hinausschleichen. Ich wählte  den Schleichweg, die leise Flucht, Stiefel in der Hand, über das Waldstück zur Straße Richtung Stadt. Irgendwann sah ich ein Polizei-Auto fahren und winkte ihm wie verrückt. Sie nahmen mich mit. Auf der Station erzählte ich alles, ein Protokoll wurde erstellt, wir fuhren gemeinsam ins Waldhotel. Die Dreckskerle schliefen noch, als sie vom Personal geweckt wurden. Als sie mich und die Polizisten vor sich sahen, waren sie bloß verwundert, sonst nichts. Die Polizei sprach mit ihnen hinter geschlossenen Türen. Ein Polizist kam raus und sagte: „Mädel, es wäre besser für dich, die Anzeige zurückzuziehen“. Sie brachten mich zurück in die Stadt.

Und da stand ich, mit 26, das Diplom unnütz, abenteuerliche Ehe hinter mir, Mutter verstorben, ohne jeglicher Perspektive, ohne Hoffnung, im Land, wo kein Mensch, geschweige denn eine Frau, gerecht behandelt wird. Es war nichts mehr zu verlieren. Ich entschloss mich auszureisen. Fliehen aus einer ruinierten Gesellschaft, die auch früher nicht menschenfreundlich war, mittlerweile aber immer mehr einem Dschungel ähnelte, in dem nur Starke Rechte besaß.

Die Ausreise war gewiss keine Flucht im eigentlichen Sinn. Die Emigration der Kontingentflüchtlinge war organisiert, legal, die Ankömmlinge bekamen Unterstützung.  Deutschland bot mir Möglichkeiten, die ich in der Ukraine nie hatte und ich nutzte mit Dankbarkeit mir gegebene Chancen. Was auf staatlicher Ebene gut funktionierte, war im Alltag manchmal traumatisch. Ich musste lernen, mit vielen Dingen klarzukommen. Zum Beispiel: Wenn ein Mitarbeiter ein Ausländer ist und einen starken Akzent hat, wird seine Qualifikation per se unter Verdacht gestellt. Man muss sich schon beweisen können, unbeirrt seine Arbeit gut machen, immer weiter, immer weiter. Ausländer steigen öfter mit wesentlich geringeren Löhnen in den Beruf ein. Man muss sich irgendwann auch mit diesem Thema auseinandersetzen. Kollegen können recht eifersüchtig auf Erfolge eines Ausländers sein. Im Laufe der Zeit wird die Haut dick, der Blick weit genug. Man findet andere Arbeitsplätze. Irgendwann hat man Menschen um sich, die den Akzent nicht zu bemerken scheinen oder ihn sogar mögen. Irgendwann ist man angekommen. Und das Leben geht weiter, wie Sand in der Sanduhr, und die Kinder wachsen heran, und man denkt sich angeblich wichtige Ziele aus, man ist mal eitel in seinem Hamsterrad, mal gestresst, mal freudig, mal unzufrieden. Ab und zu nimmt man die Nachrichten war, Syrien, Lybien, Eritrea, aber es ist doch so weit weg, und das Hamsterrad dreht sich weiter.

Und dann kommt der 24.Februar 2022. Das Wort „Flucht“ tritt so nah heran, wie nie zuvor. Kriegsfilme, Nachrichten, plötzlich werden sie real und treffen mich spürbar. Weil es diesmal um meine Familie geht, um Familien und Angehörige meiner Freunde. Weil es um das Land geht, das ich seit 2014 wieder als „meins“ betrachte, weil ich Hoffnungen habe, dass die Ukraine es schafft, ein demokratisches freies Land zu sein, wo gleiche Gesetze für alle gelten, wo Chancen gerecht verteilt werden, wo die Würde des Menschen tatsächlich unantastbar ist. Und weil es plötzlich ganz nah ist.

Die Nachrichten am 24.02.22 haben mich erst gelähmt, dann wütend gemacht, dann musste ich meine Angst und Hilflosigkeit, meine unermessliche Trauer kanalisieren. Ich half den Geflüchteten. Übersetzen, Hilfsgüter sammeln, verschicken und verteilen, Konvois organisieren, Papiere ausfüllen, telefonieren etc., etc. Und sprechen, sprechen, sprechen mit Menschen. 

Marina, deren Familie ich einige Zeit begleitet habe, erzählt:

„Am 23.02 wurde in den Nachrichten gesagt, dass Russland die Republik Donezk und die Republik Lugansk anerkannt hat. Wir waren empört, wir wussten, dass sehr viel Militär an den Grenzen stand, wir hatten nun Mal einen aggressiven Nachbar, aber uns kam nicht in den Sinn, dass morgen anders wird als heute. Wir hatten noch bis spät in den Abend darüber diskutiert, was das für uns zu bedeuten hatte. Aber ein Krieg bringe Russland keine Vorteile, ich dachte, Putin sei zwar boshaft, aber adäquat. Um 5 Uhr sind wir von Detonationen wach geworden.

Wir liefen aus dem Haus, wie alle Nachbarn. Es donnerte, als ob jemand Geburtstag feierte und unsichtbares Feuerwerk schoß – aber um 5 Uhr? Ich, noch verschlafen, dachte laut nach: Was soll das? Mein Mann antwortete: Der Krieg hat begonnen.“

Wie nimmt man diese Worte auf, wollte ich wissen.

„Surreal. Wie im schlechten Film. Dima, Marinas Mann, sagte „Der Krieg hat begonnen“ – die Worte waren da, aber die Panzer, die in wenigen Stunden hier ankommen sollten, hatten wir noch nicht realisiert. Wir wohnen 37 km von der Grenze und 10 km von Charkiw entfernt. Da die Elektrizität ausfiel, wollte ich schnell zu einem Freund nach Charkiw flitzen, um Powerbanks zu laden, eventuell am Markt einen kleinen Generator kaufen. Während ich sie anschloss, vernahm ich Nachrichten, mir wurde mulmig und ich wollte sofort nach Hause, zur Familie. Powerbanks könnte ich später abholen. Dachte ich. Von Charkiws Stadtgrenze nach Zirkuny sind es 2 km. Diese 2 km konnte man nicht mehr passieren. Da standen russische Panzer, BTR`s, Kanonen, andere Militärmaschinen und sehr viele bewaffnete Russen. Ich ging zu Soldaten, wollte fragen – wie komme ich nach Hause? Sie antworteten nicht. Ínsgesamt schien es mir zu bedrohlich, auf eine Antwort zu bestehen, ich ging schnell zurück ins Auto. Wenige Minuten später hörte ich Salven und Schreie.“

Diese Familie hat versucht, den Krieg zu Hause zu überbrücken, 20 Tagen blieben sie in Zirkuny. Erst zerstörten Raketen ihr Auto, dann flog eine Rakete ins Haus, sie hatten Glück – waren nicht mal verletzt, aber das Haus wurde unbewohnbar. Keine Elektrizität, kein Wasser, keine Lebensmittelgeschäfte.

Sie sind zu Nachbarn gegangen – bis das Haus der Nachbarn zerstört wurde. Dann gingen beide Familien in ein Haus, das schon verlassen worden war. Schlüssel ließen Menschen in den Türen stecken und beim Weggehen sagten sie den Gebliebenen – Sie sollten nehmen, was sie brauchten. Marina erzählt über das mulmige Gefühl, wenn sie fremde Häuser betrat und nach Essen suchte. Dima erzählt über die eigene Stumpfsinnigkeit beim Wasserholen – in der Nacht, bei Kälte und absoluter Dunkelheit zur Quelle außerhalb des Ortes kriechend. Tamila, die Tochter, erzählt, wie sie das Internet nach Tipps, wo im Haus die besten Überlebenschancen bei Raketenbeschuss wären durchsuchte.

Die Besatzer kamen zu schnell und es gab keine Möglichkeit mehr auf die ukrainische Seite zu gelangen. Sie warteten jeden Tag, dass „es“ bald vorbei sei. Dass es auf irgendeine zauberhafte Weise vorbei ginge. Sie warteten 3 Tage. Dann eine Woche, dann zwei. Dann noch 10 Tage im Haus von Verwandten. So verstrich ein Monat, der die Hoffnung zermalmte. Ein Monat unter ständigem Raketenbeschuss, wo Leben zum Überleben mutierte, sich auf die nötigsten lebenserhaltenden Maßnahmen einschrumpfte. Vier Wochen in gleicher Kleidung, in mehreren Schichten angezogen.

Nach 5 Wochen Besatzung beschloss die Familie über die russische Seite nach Europa zu fliehen, weil es viel näher war, als sich über alle Blockposten auf die ukrainische Seite durchzuschlagen. Aber wie, wenn der Wagen zerstört ist? Aus dem Fenster sahen sie, wie eine Nachbarsfamilie ihren Kleinbus belud. Dima fragte, ob sie mitdürften. Ja, dürften sie – in einer Stunde. Schnell, chaotisch etwas einpacken, beide Hunde auch mit, Pässe, Geld. Der Bus sprang erst nach einer Überbrückung der Batterie an. Die Flucht begann.

Auf dem Weg bekamen sie die Maßstäbe der Katastrophe zu Gesicht. Häuserruinen, Krater in der Erde, umgeknickte Bäume, Tierkadaver auf der Straße, ausgebrannte Panzer, Autos. „Zum Glück haben wir keine Leichen gesehen“, sagt Marina, „Jeder Kilometer ein russischer Blockposten. Jeder Soldat nimmt deinen Pass in die Hände und du denkst – bekomme ich ihn wieder zurück? Komme ich hier mit dem Leben davon? Handys werden kontrolliert. Sobald wir die Grenze überquert haben, sollen wir anhalten und warten, bis der FSB eintrifft.“

Marina, Dima und ihre Tochter kommen öfter bei mir zu Besuch. Wenn ich sie anschaue, sind es Menschen wie du und ich. Wüsste ich nicht, welche Hölle sie überlebt haben. Und sie hatten Glück dabei! Die Flucht durch Feindesland, in Tambov mussten sie das Auto der Nachbarn verlassen, weiter mit Leihautos, mit Hilfe von Freiwilligen, bis nach Estland, dann Lettland, Litauen, Polen – bis sie irgendwann in Deutschland aufgenommen wurden.

Was wäre mit mir gewesen, wenn keine Flucht mich geprägt hätte? Was wäre aus meiner Familie geworden? Aus mir? Diese Erfahrung hat mir, gewiss einiges weggenommen: die so genannte Heimat, die Familie in ihrem traditionellen Sinne, die Selbstverständlichkeit, sich auf etwas oder jemanden verlassen zu können. Aber etwas gegeben hat mir diese Erfahrung auch: die Leichtigkeit eines Kriegers, die Empathie eines Hüters, die Ausdauer eines ewigen Wanderers, die Sturheit eines lernenden Kindes. Und das wichtigste: sie ließ mich das Fremdsein komplett umbewerten.

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Für Heinrich-Böll-Stiftung NRW, Mai 2023, Karlspreis, Aachen

Veröffentlicht von

juliag

Julia Grinberg, Mitglied des „Salon Fluchtentier“. Zu hören bei Lesezimmer.de, zu lesen online bei: Fixpoetry, Verlagshaus Berlin, Signaturen, analog bei Seitenstechen (Homunculus Verlag), MosaikZeitschrift, außer.dem, All Over Heimat, OSTRAGEHEGE, Jahrbuch der Lyrik 2021. Debütband "kill-your-darlinge" ist 2019 erschienen. Header-Bild: Alexander Paul Englert