100 Ansichten des Landes Nihon

7. In Keihan steigt ein Pärchen in den Zug ein. Der Mann setz sich neben mich, für seine Frau ist kein Platz mehr, also setzt sie sich gegenüber. Ich zeige mit Gesten, dass wir Plätze tauschen können. Sie lächelt dankbar, gleich ist der Wechsel vollzogen. Nun sitzen die beiden gemeinsam auf einem kiefergrünen samtenen Sitz: er trägt einen lila Schal, sie – einen lila Rock, eine mintgrüne Tasche hält sie auf dem Schoß. Ich wiederum lande neben einer betagter Japanerin im grauen Kostüm, die Zeitung liest. Wir beiden haben Taschen in orange, bei ihr blass, bei mir marker-orange mit blauen Blüten. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass meine Hose auch grau und mein Pullover blass-orange ist. H – wie Harmonie.

11. Die Sauberkeit überall und die Pünktlichkeit bei allem sind Balsam & Weihrauch für meine Spießigkeit. In Hotels gibt es Waschmaschinen, Flughäfen sind die saubersten in dem Weltranking, überall ist es blitzeblank, auch ohne Abfallbehälter. Bevor man in einer warmen Quelle badet, schrubbt man sich vorher gründlichst. Als ich in jungen Jahren in einem Studentenwohnheim lebte, reinigte ich meinen Teppichboden per Hand mit einer nassen Bürste täglich, rieb die Flächen stets blitzeblank, spülte das Geschirr zusätzlich mit Kochwasser ab. Lag es daran, dass zu viele Spuren von zu vielen Menschen auf einer zu kleinen Fläche blieben? So ein MIni-Japan? Ich interpretiere die Sauberkeit lieber als Vorstufe zur „Ma“: „Aufgeräumt“ heißt „leer“, auf der tabula rasa kann alles entstehen. Dank dieser essentiellen Leere kommen Dinge ins Gleichgewicht, sie gibt denen Raum und Hintergrund, sie ist Quelle für Inspiration: „Ma“ – ま.

14. In habe in Japan innerhalb zwei Wochen keine LKW’s gesehen, nur kleine kastenförmige Transporter. Am letzten Tag, auf dem Weg zum Flughafen, habe ich dann doch einen gesehen. Generell sind die Autos, wie in einem Kinderland, eher klein und immer kantig. Ich mag dieses Legoland, ich nehme in Kauf, dass das Treten auf ein Steinchen schmerzhaft sein wird.

32. „Namu amida butsu“ soll man so und so viel Mal im Leben gesagt haben, dann ist dir Nirvana garantiert, lacht Maria. Dann rechnet sie aus, wie viel Male pro Tag, pro Stunde und Minute man diese Mantra sagen soll. Ich will das Nirvana erreichen, habe leider die Zahl vergessen.

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juliag

Julia Grinberg, Mitglied des „Salon Fluchtentier“ und Darmstädter Textwerkstatt. Zu hören bei Radio Lora München, Lesezimmer.de, zu lesen online bei: Verlagshaus Berlin, Signaturen, analog bei außer.dem, All Over Heimat, OSTRAGEHEGE, Jahrbuch der Lyrik 2021 (Schöffling), Worte in finsteren Zeiten (S.Fischer), Risse und Welt (Dillmann). Debütband "kill-your-darlinge" (Gutleut) ist 2019 erschienen. Header-Bild: Alexander Paul Englert