Lagebesprechung #71

OSTARGEHEGE #76:

Paul – Henri Campbell

CHUTZPAH UND ÜBERWINDUNG

Zur luftwurzelnden Poesie von Julia Grinberg

 

»Überwinden?« frage ich sie bei einem Interview. »Ja. Überwinden: alles übergehen, das in mir drinnen ›stopp‹ oder ›lass es sein, es ist nicht genug‹ schreit, all das muss ich jedes Mal überwinden, wenn ich auf Deutsch schreibe«, antwortet die Dichterin Julia Grinberg.

Aber eigentlich ist die 1970 in der ehemaligen Sowjetunion geborene Lyrikerin, die heute im vorderen Rheingau lebt, keineswegs eine scheue Magierin der Verskunst. Sobald die Grundschülerin Julia Grinberg die ersten Sätze niederschreiben konnte, verfasste sie für ihre Mutter Märchen, darin fantastische submarine Lebewesen in einem unbekannten Ozean ihre Abenteuer durchlebten. Die Tochter eines Offiziers der Sowjetischen Armee, ist ihre Kindheit geprägt von permanenten Umzügen. Sooft der Vater neue Befehle erhält, zieht die gesamte Familie um: von einer Kaserne nahe Kazan, wolgaaufwärts nach Saratóv, dann kurzzeitig weit in den Osten an die maritime Grenze mit Japan und später in die DDR, um schließlich im ukrainischen Dnipro zu landen, wo die Dichterin (in statu nascendi) zunächst ein Studium der Chemie absolvieren wird.

Häufig hat man das Leben einer Militärfamilie mit Mangrovenbäumen verglichen: mit jenen olivgrün belaubten Organismen, die mit Gezeiten und Strömungen wandern, wuchernd mit Stelzwurzeln, mit Luftwurzeln in unsteten Böden: Es fällt sicherlich nicht schwer, sich vorzustellen, wie sich das sensible Sensorium dieser heranwachsenden Poetin allmählich mit einer ganzen Phantasmagorie an Eindrücken anreichert, einer Karawane an immer neu einzurichtenden Wohnstätten und Umwelten sättigt, bis ihre Biographie eine längere Fermate in der satten schwarzen Erde der Ostukraine macht: »zerreiß moderndes halbdunkel / […] prüfe deine flügel / auf funktionales im flatternden / morgengrau meiner nomadenwiege.«

Nach der Wende, mit Anfang zwanzig, schließt sie sich naturgemäß mit kunstaffinen Kommilitonen an der staatlichen Universität Dnipro zusammen, um gemeinsam Literatur zu lesen und sich über selbstgeschriebene Texte auszutauschen. Später präsentiert die Gruppe ihre Zeitschrift Артикль (»Artikel«) in Moskau. Hier auf www. polutona.ru veröffentlicht sie ihre ersten russischsprachigen Gedichte und frühe Kurzprosa. Als ihre erste Anstellung in einem lokalen Chemiewerk in den turbulenten Umbruchsjahren nach dem Kollaps der Sowjetunion ein Ende erreicht, wird sie darauf angewiesen sein, ihre kreativen Kräfte im bloßen täglichen Kampf um die Selbstversorgung zu erschöpfen, sodass sie um 2000 einen Ausreiseantrag stellt und nach Deutschland auswandert. Auch hier erweisen sich die Luftwurzeln, die ihr gesamtes Wesen weniger festgelegt, deutlich risikobereiter stimmen, als eine existenzielle Stärke. Zwei Dekaden später wird sie in ihrem Debütband folgende Verse mitgeben: »luftwurzeln, luftbäume, luftäste / tief eingewachsen in wind / luftleutewirbel, luftwäsche an luftleinen / weggeweht. bleibt ein horizont / verblasst zwischen fingern.«

Als sie in Wiesbaden ankommt und die ersten hessischen Menschen kennenlernt, die ja immer etwas zu betrunken, zu verplaudert und zu heiter wirken, um ernst genommen zu werden, entsetzt sie sich nicht vor deren süffigem Dialekt, sondern genießt das Leben am Rhein in vollen Zügen. Eine neue Phase ihres Lebens beginnt. Gleichzeitig entstehen in freien Stunden dutzende neue russische Gedichte. Zunächst wird sie in der Qualitätskontrolle in einem Chemielabor arbeiten  und  später, da sich in ihr die Luftwurzeln winden, etwas Neues suchen, und entdeckt für sich den Wein. Sie belegt Kurse an der deutschen Wein- und Sommelierschule. Und so sehr ihre Zunge den Geschmack eines jeden Wortes genau zu wiegen weiß, so sehr wird sie auch die unzähligen Noten des Weins zu prüfen wissen.

Zunächst unmerklich, aber – wie die Dichterin selbst feststellt – zunehmend bewusst, zunehmend bestimmt, vollzieht sich in ihrem Sprechen ein Wandel. Je mehr sie sich die neue Sprache aneignet, mit ihr ringt, sie meistert, desto mehr bringt sie ihre mitgebrachte Sprache, also das Russische, in sich immer mehr zum Schweigen. Es ist eine Sprache, aus der sie hervorgegangen war, aber zu der sich nun zunehmend eine Kluft weitet: Nicht dass sie verblassen oder verschwinden würde, nur verselbstständigen sich die neuen Wörter immer mehr, wird ihre Forderung, sich auch in dieser Sprache als Dichterin zu äußern, immer unabweisbarer.

Bis sich die Dichterin Julia Grinberg überwindet – und immer mehr überwindet, schamlos, selbstbewusst, hingebungsvoll. Bis sich Kehle und Zunge, Gaumen und Lippen, von inwendig her, nach außen, hin zur Publizität des Gedichts kehren, wie es in dem Text komm nur ins freie heißt: »heute in weißer hose. hasen schauen verdutzt – es ist ihnen / definitiv zu viel. so marschieren die hasen nach links, ungeniert, / eichhörnchen nach rechts, wälzen sich im laub und grunzen. // […] bin keine dompteuse, längst aus dem käfig raus. komm ins freie.« Fortan wirbeln, tanzen und streiten diese Sprachen in ihr, exophonisch, ohne nach Lösung und Besänftigung zu suchen. Stattdessen halten sie die Saiten dieser Harfe gespannt. Es ist ja die Dummheit der Reinheitsphantasten, die in perverser Dialektik immer auf Aufhebung und Synthese hoffen. Vielmehr heben sich die Sprachen nicht gegenseitig auf, ihr Widerstreit macht Julia Grinberg besonders produktiv; es ist gerade das, was René Char meinte, als er sozusagen die Photosynthese der poetischen Energie am Scheitelpunkt des Lichts ansiedelte: »[…] genau auf der hermetischen Trennungslinie von Schatten und Licht, aber sind wir unwiderstehlich nach vorn geworfen. Unsere ganze Person bietet diesem Durchstoß Hilfe und Taumel.«

Überwinden: Als stauten sich die Buchstaben und Bilder zunächst, bis sie bersten und schließlich zum Fluss kommen. Viele ihrer Gedichte beginnen mit kurzen, harten Zeilen, wie »pass auf, ich neige zu übertreibungen. aber hand aufs herz.« Und nach dieser kurzen Silbe der Explosion, womit der Damm bricht, beginnt jene langplätschernde Silbe in einem immer regelmäßigeren Duktus überzufließen: »schwingen in senkrechte richtungen, unsere achsen werden sich / kreuzen, sei federn über parallele ebenen. mein oszillieren strahlt.« Zunehmend wird der Dichterin die fundamentale Wandlung des expressiven Temperaments deutlich, die sich einstellt, sooft sie zwischen Russisch und Deutsch als Schreibsprache changiert.

In Edmund Whites Autobiographie City Boy (2009), beschreibt der Autor ein 1975 geführtes Telefonat mit Vladimir Nabokov, wo White diesen für seinen Prosastil verehrten Schriftsteller zum ersten mal hört: Er ruft Nabokov in der Schweiz an für ein Interview im New Yorker und ist über den starken russischen Akzent des Autors regelrecht bestürzt. Und es wird erst zur Jahrtausendwende auch bei den allerletzten Puristen durchklingen, welche enorme Weitung des literarischen Resonanzraums durch Autoren wie Joseph Conrad, Vladimir Nabokov, Edith Philips, Kazuo Ishiguro oder Joseph Brodsky entstanden war.

Julia Grinberg gehört auch zu solchen Erweiterinnen der Resonanzräume, denn eine glückliche Fügung will es, dass sie dann in Frankfurt am Main eine Lesung mit der Schriftstellerin Olga Martynova besucht. Diese stellt den Debütband flüchtige monde (kookbooks, Ber- lin 2016) des 1989 geborenen Poeten Yevgeniy Breyger vor. Und es ist dieser ungestüme, in allen Dingen zarte und achtsame Dichter, der auch Julia Grinberg unterstützen wird, sich in der schier unüberschaubaren Sne der zeitgenössischen Lyrik zu orientieren. Breyger macht Julia Grinberg mit anderen Frankfurter Dichtern und Dichterinnen wie Martin Piekar, Marcus Roloff, Lisa Goldschmidt, Julia Mantel, Robert Stripling oder Alexandru Bulucz, aber auch Paulus und Lydia Böhmer bekannt. In diesen Tagen formieren sich die Poeten im Rhein-Main-Gebiet neu und finden unter dem Namen Salon Fluchtentier zusammen. Auf diese Weise entstehen die ersten Veröffentlichungen Grinbergs auf Fixpoetry in Hamburg oder dem Münchner Online-Magazin Signaturen sowie den zahlreichen Lesungen etwa bei Michael Hohmann in der Frankfurter Romanfabrik oder ihr dichterischer Debütband kill-your-darlinge im gutleut verlag (Frankfurt) im Jahr 2019.

Veröffentlicht von

juliag

Julia Grinberg, Mitglied des „Salon Fluchtentier“. Zu hören bei Lesezimmer.de, zu lesen online bei: Fixpoetry, Verlagshaus Berlin, Signaturen, analog bei Seitenstechen (Homunculus Verlag), MosaikZeitschrift, außer.dem, All Over Heimat, OSTRAGEHEGE, Jahrbuch der Lyrik 2021. Debütband "kill-your-darlinge" ist 2019 erschienen. Header-Bild: Alexander Paul Englert