mädchen, hast du ein glück

für A. Kh.

das fing schon schräg genug an: nach einem literarischen abend, wo ein großartiger schriftsteller las, raffte ich meine seit tagen andressierte kühnheit zusammen, ging auf ihn zu und drückte ihm alle meine texte in die hand. ein heftchen, um genau zu sein, mit meiner telefonnummer auf dem deckblatt. stotternd bat ich ihn um eine kurze rückmeldung, da ich mich selbst nicht in der lage sähe, zu beurteilen, ob meine texte lesenswert wären, ob ich es lieber lassen solle, das papier weiter zu quälen. hoffnung, dass er anruft, war verschwindend gering. andererseits, kein anruf wäre ja klar zu deuten.

er rief am übernächsten tag an. ich weiß noch ganz genau, was er zu mir sagte und wie ich zuhörte, versuchte an dem hörer vorbei ein- und ausatmen,  und dabei lautlos weinte. er sagte: «mädchen, hast du ein glück, dass ich nie von vorne nach hinten lese». er wiederholte: «hast du ein glück, sonst wäre dein heftchen im mülleimer gelandet“.  aber er läse von hinten nach vorne. wie dem auch sei, erste zwei erzählungen sind einfach schwülstig, der rest liegt auf der skala von «es geht so» bis «sehr gut» breit zerstreut. achja, das gedichtlein so-und-so sei das beste, seines erachtens.

ich schwieg, die tränen liefen, er sprach weiter. ich solle jeden tag schreiben, wirklich jeden, üben, schreiben, jeden tag. dann solle ich ohne reue alles ausmisten, was bei mir nur ein hauch unzufriedenheit auslöst. zum beispiel im text über gesichter solle ich den ersten absatz weg streichen, und dann den dritten absatz weg streichen, vielleicht auch den vierten. und alle sätze noch mal durchkämmen. übrigens, den letzten absatz hätte er persönlich auch verworfen. na toll, dachte ich. und weinte, am hörer vorbei. und schwieg. selten war ich so glücklich.

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juliag

Julia Grinberg, Mitglied des „Salon Fluchtentier“. Zu hören bei Lesezimmer.de, zu lesen online bei: Fixpoetry, Verlagshaus Berlin, Signaturen, analog bei Seitenstechen (Homunculus Verlag), MosaikZeitschrift, außer.dem, All Over Heimat, OSTRAGEHEGE, Jahrbuch der Lyrik 2021. Debütband "kill-your-darlinge" ist 2019 erschienen. Header-Bild: Alexander Paul Englert