I did it my way

Heute vor 25 Jahren habe ich eine Grenze überschritten. Ich meine es buchstäblich, es war die Grenze zwischen Polen und Deutschland. Es gab noch diese Grenze in Hennersdorf. Obwohl die Beamten von beiden Seiten für mich ungewöhnlich gelassen erschienen (im Gegensatz zu unsrigen in Przemysl, die waren ihrer Wichtigkeit bewusst, kosteten sie aus, schikanierten die Insassen, sammelten ihr Obolus unter der Vermittlung von Busfahrern, wirkten auch danach mürrisch).

Ich saß im Bus mit weiteren Kontingentflüchtlingen. Eine Hälfte der Sitze besetzten Menschen, die andere Hälfte war mit ihrem Gepäck bis zur Decke des Busses beladen. Es waren ausschließlich Familien. Sie hatten viele, sehr viele Plastiktaschen: weiß-blau-rote, gestreifte und karierte – die Standardtaschen eines jeden Notfallnomaden.

Ich fuhr allein und hatte nur eine Tasche. In der Tasche, dicht verpackt, lagen:

  1. ein Paar T-Shirts, Unterwäsche, Leggings (Jeans hatte ich trotz Hitze an, weil – schwer);
  2. eine Daunendecke, ein Bettwäscheset;
  3. eine gusseiserne Pfanne (oh Gott, wozu?? warum die Pfanne??);
  4. zwei große Wörterbücher und weite Bücher auf Russisch (Pasternak, Tschechow, Brodskij, Zwetajewa, Bulgakow, Nabokow, Borches, Vonnegut und – jetzt wird es peinlich – Puschkin und Dowlatow).

Habe ich etwas vergessen? Achja, doch, zwei Fünfzig-Dollar-Scheine, für „Fall der Fälle“. Ein „Fall“ an der Grenze in Przemysl kostete mir ein Schein, zweites „Fall“ gab es nicht.

Nun stehe ich da, vor dem geöffneten Fenster, sehe zu, wie eine Amsel aus dem von mir gestern gemähten Rasen einen langen, fetten Regenwurm zieht. Ab und zu schaut sie mich an, um sich zu vergewissern, dass ich keine Ansprüche auf ihren Wurm erhebe. Die Rosen, die ich vor Jahren eingepflanzt habe, blühen üppig. Das Efeu, das ich noch früher vor der toten Hecke gesetzt hatte, begrünt das leblose Gehölz. Den ramponierten Boden hatte ich mir zu eigen gemacht, auf Zeit, die Dauer war und bleibt unbestimmt, aber ich hatte mich entschieden: ich mach` es mir schön, auch wenn morgen… nein, heute nicht, heute denke ich lieber an etwas anderes..

Heute versuche ich mir die Zahl „fünfundzwanzig“ vorzustellen. Ich kann es nicht. Ist es zu viel, ist es zu wenig? Woran soll ich sie messen? Wozu inventarisieren? Nur eins fehlt mir ein: Ich spüre eine tiefe Dankbarkeit. Ich danke den Menschen, denen ich begegnet bin, die ich kennenlernte, zu Gefährten gewann, loslassen wollte oder sollte; den Menschen die mir etwas beibrachten (unter diesen Menschen sind auch meine Kinder), die mir die eine oder andere Tür öffneten, ebenso wie an diejenigen, die Türen vor der Nase zuschlossen. Mein Dank geht an Menschen, die mir Trost spendeten, an die, die ich trösten durfte, an Menschen, mit denen ich sprechen und weinen konnte, an die, die mich umarmten, an die, mit denen ich Tränen lachte, und an die, die mir noch begegnen werden.

Also, Wein ist gekühlt.

Veröffentlicht von

juliag

Julia Grinberg, Mitglied des „Salon Fluchtentier“ und Darmstädter Textwerkstatt. Zu hören bei Radio Lora München, Lesezimmer.de, zu lesen online bei: Verlagshaus Berlin, Signaturen, analog bei außer.dem, All Over Heimat, OSTRAGEHEGE, Jahrbuch der Lyrik 2021 (Schöffling), Worte in finsteren Zeiten (S.Fischer), Risse und Welt (Dillmann). Debütband "kill-your-darlinge" (Gutleut) ist 2019 erschienen. Header-Bild: Alexander Paul Englert