an dem tag, als ich zu meinem vater wollte

Als erstes wurde es unsinnig, sich gebührend aufzubereiten. Sogenannte Karriere wurde unsinnig, aber häusliche monotone Arbeit im Gegenteil – meditativ und Gleichgewicht aufrechterhaltend. Viele Verbindungen lösten sich angesichts ihrer absoluten Überflüssigkeit. Manche mussten zerrissen werden. Entzückender Konsum wurde lächerlich, wenn nicht peinlich. Bedeutungslosigkeit mehrte sich, wurde zum anhaltenden Schneefall. Meine galoppierende, hier und da bröselnde Welt wickelte sich auf einmal in einen weichen Kokon. Manch einer beschämte mich, mir wäre eine Zwangsjacke übergestülpt. Ihr armseligen, ihr phantasielosen, ihr die Werbemagazine anbetenden, ihr lechzenden nach verordneten Unruhen. Was wisst ihr über den Weltuntergang?

Nette Leute von nebenan entpuppen sich als hasstriefende pu-Verehrer. Die schämen sich nicht, mir zu sagen, dass mein früheres Heimatland „niedergemäht“ werden soll. Auf meine Frage, was konkret haben Ihnen die Ukrainer angetan, gibt es keine Antwort, aber „die Ossis, die  hätten es auch verdient“. Ihre Gesichter zucken vor Wut. Meine Welt schrumpft bedrohlich zusammen. Ich dachte, ich bin in Sicherheit, ich habe viel dafür durchgemacht. Meine Insel der Sicherheit ist aber gar nicht gesichert, vage ist sie, vage und wackelig.

Ich selbst bin seit Februar diffus geworden, nie richtig da. Zwar funktioniert meine Hülle wie die eines Roboter weiter, bloß innerlich bin ich im Krieg. Alles was ich für die Ukraine machen kann, erscheint mir unzureichend, mickrig, kleinlich. Alles was ich hier im Alltag stumpf erriche, empfinde ich als erbärmliche Banalität. Die zwei Ichs kommen nicht zusammen, ich torkele zwischen Ohnmacht und Gewährleistung. Hurra, diese Welt geht runter.

Vor drei Jahren habe ich einen Urlaub geplant: damit meine Kinder die Ukraine kennenlernen, wollten wir mit dem Auto erst nach Chemnitz, dann nach Krakow, mit Besichtigungen, mit Treffen von Freunden. Jeweils eine Übernachtung, ganz gemütlich weiterfahren. Dann Lviv. Lviv wäre auch zweitägigen Stop wert,  dann Kyiv, drei Tage mindestens, dann nach Dnipro, erst zum Vater, dann zu Freunden. So haben wir es uns vorgestellt.

Corona kam, ihr folgte Krieg. Aus der Reise ist nichts geworden. Ich telefoniere nun mit meinem Vater. Er erzählt, wie er und Valja die Meisen verwöhnt haben: sie stecken für sie Speck auf Zahnstocher, die kleine Schaschliks kommen zwischen Fensterflügel. Mittlerweile kommen die Meisen ans Fenster und klopfen mit Schnäbelchen – hallohooo, wo ist unser Speck??? Außerdem haben die Meisen es auch den Spechten und Eichelhähern erzählt, die anderen wagen es noch nicht, ans Fenster zu klopfen, aber warten am Balkongelände – fordernd.

Das erzählt mir mein Vater, Valja höre ich im Hintergrund lachen. Elektrizität ist aus, aber es ist nicht schlimm – Heizung läuft ja. Kühlschrank? Ach, was wird dem schon in den paar Tagen passieren. Aus meinem Fenster sehe ich auch eine Meise, zwei Amsel, einen Sperling, sie pflücken rote Beeren vom Wacholder. 

Als unser heiteres Gespräch zu Ende ist, bekomme ich einen Weinkrampf. Ich kann nicht aufhören. Können die Tränen die seit Monaten angestaute Anspannung, Angst, Ungewissheit  ausspülen? Dann her damit. Mein Sonn kommt in die Küche, erschrocken. Was ist passiert, fragt er. Nichts. Ich will einfach zu meinem Papa. Ich heule wie ein kleines Kind, aber ich will wirklich einfach nur zu meinem Papa. Ich habe ihn lange genug nicht gesehen. Ich habe auch lange genug gar kein Bedürfnis gehabt, ihn zu sehen. Aber jetzt, verdammt – ich will zu meinem Vater!

Veröffentlicht von

juliag

Julia Grinberg, Mitglied des „Salon Fluchtentier“ und Darmstädter Textwerkstatt. Zu hören bei Radio Lora München, Lesezimmer.de, zu lesen online bei: Verlagshaus Berlin, Signaturen, analog bei außer.dem, All Over Heimat, OSTRAGEHEGE, Jahrbuch der Lyrik 2021 (Schöffling), Worte in finsteren Zeiten (S.Fischer), Risse und Welt (Dillmann). Debütband "kill-your-darlinge" (Gutleut) ist 2019 erschienen. Header-Bild: Alexander Paul Englert