Versuch einer Waldjause

Die Pilzsaison hat noch nicht richtig angefangen, meine ganze Ausbeute bestand aus zwei kleinen Steinpilzen und einem Hexenröhrling. Den hätte ich stehen lassen sollen – Schnecken hatten sich seinen Fuß fast zu einem Drittel einverleibt, auch der Hut war angeknabbert. Aber nach vier Stunden im Wald wollte ich wenigstens diese Genugtuung mitnehmen; erst auf dem Rückweg sammelte ich die zwei Steinbabys.

Sie, eine Frau mittleren Alters, saß an einem kleinen Tisch mit zwei Bänken, abseits des Pfades, kaute an ihrem Brezel, lächelte mich an.  Ob ich mich mit meiner Jause zu ihr gesellen dürfte? Sie schob ihre Trinkflasche und Tüte zur Seite und deutete freundlich auf die zweite Bank. Ich holte meinen Proteinriegel heraus.

Sie musterte erst mich (unauffällig), dann den Inhalt meines Korbes (interessiert). In ihrem Korb lagen genau drei Steinpilze, alle daumengroß; an einem davon hatte auch schon eine Schnecke genascht. Wir tauschten höflich die üblichen Floskeln aus, bedauerten die aktuelle Pilzlage, es wurden Hoffnungen auf mehr Regen kundgetan, während wir unsere Jausen fertig aßen. Es wurde still.

Ich habe kein Problem mit Pausen im Gespräch. Ich muss sie nicht füllen, erwarte das auch von anderen nicht. Schweigen ist wie eine Blase: Entweder versteckt man sich in ihr, oder trägt sie mit Würde. Das ruhige Schweigen nimmt dem Wortwechsel die manchmal erdrückende Dichte. Ich mag es, wie ein Strick mit Lochmuster, wie luftige Krume, wie löchrigen Käse. Also schwieg ich, mit dem Waldrauschen im Hintergrund.

Sie knitterte ihre Brottüte so lange, bis sie ein Knäuel daraus gemacht hatte, und begann unvermittelt zu sprechen:

„Entweder die Jungen, fast Kinder – die lassen wir stehen –, oder jene, deren Zerfall schon weit fortgeschritten ist. Manche sind von vorbeiziehenden Wüstlingen demoliert, manche von ihren Schnecken zerfressen, hier und da ungeniessbare Schönlinge, ab und zu ganz skurile, auch giftige. Es ist nicht nur spitzzüngiges Lästern – ich schließe mich ein, bin auch mal giftig, mal nett, und auch an mir hat die Erosion bereits geätzt. Angefressen bin ich, von allen Seiten, auch drin steckt ein Wurm. Aber ich stehe mit beiden Füßen fest auf dem Boden, bin knackig genug für einen wohlwollenden Korb!“ – sagte sie und lachte auf. Ihr Lachen wurde immer lauter, immer grunzender, ihr Gesicht verzerrte sich, lief bräunlich an, sie verwandelte sich in einen Pilz.

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juliag

Julia Grinberg, Mitglied des „Salon Fluchtentier“ und Darmstädter Textwerkstatt. Zu hören bei Radio Lora München, Lesezimmer.de, zu lesen online bei: Verlagshaus Berlin, Signaturen, analog bei außer.dem, All Over Heimat, OSTRAGEHEGE, Jahrbuch der Lyrik 2021 (Schöffling), Worte in finsteren Zeiten (S.Fischer), Risse und Welt (Dillmann). Debütband "kill-your-darlinge" (Gutleut) ist 2019 erschienen. Header-Bild: Alexander Paul Englert